Reimer Boege MdEP zu den aktuellen Diskussionen über die Zukunft Europas

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Reimer Boege MdEP zu den aktuellen Diskussionen über die Zukunft Europas

Klartext vom Europaabgeordneten Reimer Boege zur Schäuble-Debatte, das Scheitern Griechenlands als Staat, die Instabilität auf dem Balkan, den Wahnsinn des IS und die Flüchtlingstragödien, die russische Aggression gegenüber der Ukraine, den aufkeimenden Nationalismus in vielen Ländern der EU uvm.

 Sehr geehrte Damen und Herren,

ich begrüße ausdrücklich die von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble angestoßene Debatte über künftige Strukturveränderungen auf europäischer Ebene.

Wenn nicht jetzt, wann dann? Die Europäische Union hat es so oft in Zeiten der Krisen geschafft, mit neuem Schwung Probleme anzugehen und zu lösen.

Das Scheitern Griechenlands als Staat mit seinen vielfältigen Ursachen, die Instabilität auf dem Balkan, die russische Aggression gegenüber der Ukraine, aufkeimender Nationalismus in vielen Ländern der EU, schwache Institutionen und fragwürdige Rechtsstaatlichkeit in einigen Mitgliedsstaaten und Kandidatenländern, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die in den Kinderschuhen steckt, der Wahnsinn des IS und die Flüchtlingstragödien, China, das sich aufmacht, die Welt zu unterwandern: das ist eine Zusammenballung von Herausforderungen, wie es sie seit dem Fall der Mauer nicht mehr gegeben hat.

Die Erfahrung lehrt aber auch, dass mit bloßen Regeländerungen oder neuen Verträgen Europa nicht allein besser zu machen ist. Es geht auch darum, dass diese Europäische Union der Bürger und der Staaten sich auf das Wesentliche besinnt und den Verein zukunftsfest macht im globalen Zusammenhang. Entweder wir schaffen dieses auf der Grundlage der Werte und Prinzipien, die wir über die Grundrechtecharta und die Verträge gemeinsam anerkannt haben oder andere Kontinente entscheiden über das Schicksal Europas. Wichtig sind dabei die Instrumente und die Regeln, auf die wir uns verpflichten. Wichtig ist aber vor allem der Geist der Zusammenarbeit und der Solidarität, der auch in den Mitgliedsstaaten vermittelt werden muss.

Zu oft wird immer noch die Legende geschürt, in Friedenszeiten säße der Feind in Brüssel. Nein – wir alle sind Brüssel, aber tun so im Zweifelsfall, als seien wir bei Entscheidungen nicht dabei gewesen.

Vertreten wir offensiver, dass bei allem was zu tun ist, die Europäische Zusammenarbeit trotz vieler Unzulänglichkeiten eine Erfolgsgeschichte von Frieden, Freiheit und Wohlstand ist.  Erkennen wir an, dass ohne die Unterstützung unserer Partner und ohne die konsequente Einbettung Deutschlands in die europäische Integration der Glücksfall der Deutschen Einheit nicht stattgefunden hätte (in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen).

Was zu tun wäre:

1. Wir sollten fragen, wo können wir ohne die mühsame Prozedur von Vertragsänderungen und der erforderlichen Einstimmigkeit dazu Fortschritte gemeinsamen Handelns erreichen bei gleichzeitiger Achtung der Subsidiarität.

2. Sowohl das anstehende Referendum im Vereinigten Königreich als auch die teilweise merkwürdigen Reflexe zu den Gedanken Wolfgang Schäubles erfordern doch eine grundlegende Debatte zur Verfasstheit der Europäischen Union.

3. Der überall in Europa aufkeimende Links – und Rechtsextremismus mit seiner zerstörerischen Wirkung ist eine Gefahr für eine humane, demokratische und tolerante Gesellschaft. Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen ist das Gebot der Stunde und beginnt vor Ort in den Mitgliedsstaaten. Wie kann es z.B. sein, dass die EU eine Jugendbeschäftigungsinitiative mit 6 Mrd. Euro für Länder mit mehr als 25 Prozent Jugendarbeitslosigkeit beschließt, der Abruf der Mittel aber bei gerade 15 Prozent liegt? Es geht also um nicht vorhandene Strukturen oder mangelnden Willen staatlicher Institutionen und Unternehmen. Aber wer hier nichts tut, gefährdet das gesamte politisch und wirtschaftlich soziale System seines Landes und bringt es zum Einsturz! Zukunft fängt immer auch zu Hause an.

4. Das Ziel der EU ist u.a. die Verwirklichung des Binnenmarktes. Die Währung ist der Euro. Nur Dänemark und das Vereinigte Königreich haben eine auf Dauer angelegte Ausnahmeregelung. Da kann es nicht sein, dass das UK notwendige Entscheidungen als am Euro nicht beteiligtes Land blockieren könnte. Die in den letzten Jahren erfolgten Änderungen zur wirtschaftlichen Koordinierung, zur Bankenunion und den Sanktionsverfahren sind richtig. Sie werden auf Dauer nicht ausreichen.

5. Die Grundsatzdebatte zu Kerneuropa oder einem Europa der variablen Geometrie (Schäuble/Lamers 1994) ist aktueller denn je. Gleichzeitig kann es kein Europa à la carte geben. Ein freiwilliger Austritt ist erstmalig im Lissabon Vertrag festgeschrieben. Der Europäische Wirtschaftsraum ist eine Alternative für Länder, die sich dem Ansatz einer vertieften Union verweigern. Die Beitrittsperspektive der Balkanländer ist zu begrüßen. Aber bevor die Union sich weitere ungelöste Konflikte hineinholt, könnte ein Regionalverbund dieser Länder eine wichtige Vorstufe zur Mitgliedschaft sein. So könnte der nachhaltige Beleg erbracht werden, dass es Versöhnung und gemeinsame Zukunftsperspektive gibt.

6. Die von Wolfgang Schäuble aufgeworfene Frage, inwieweit die Kommission als europäische Regierung agieren und gleichzeitig Hüterin des Wettbewerbs-, Beihilferechts und der Umsetzung des acquis communautaire sein könne, ist berechtigt. Denn wir wollen das Gleichgewicht der Kräfte und kein Zentralkomitee. Es gibt zu viele Beispiele, wo die letzteren Befugnisse relativ ungleichgewichtig wahrgenommen wurden. Denken wir an detailgenaue Einforderungen zu herumlaufenden Wölfen, zu FFH oder Vogelschutz auf der einen, Vernachlässigung des griechischen Katasterproblems oder mangelhafte Konsequenz zu Verfahren im Euroraum auf der anderen Seite.

7. Da der Kern aus dem Binnenmarkt und dem Euro besteht, gehören diese komplett in das Zentrum der Union gestellt und nicht als Zusatzveranstaltung auf zwischenstaatliche Ebene. Die Eurogruppe sollte unter der Leitung des Währungskommissars arbeiten. Daneben brauchen wir einen EU-Haushaltskommissar mit einer EuroHaushaltskapazität und innerhalb des Europäischen Parlaments sollte ein EuroParlament konstituiert werden. Es ist auch international ein Zeichen von Schwäche, dass man derzeit auf den IWF zurückgreifen muss, um Probleme der Eurozone zu lösen.

8. Vereinbarte Regeln müssen im Sinne von Vertragstreue eingehalten bzw. können nur unter Beachtung der geltenden Verfahren im Sinne unserer Rechtsgemeinschaft geändert werden. Dazu gehört aber auch, dass weder die Kommission noch der Europäische Rat das Recht haben, wie bei der Schaffung des EFSM oder der aktuellen Brückenfinanzierung zugunsten Griechenlands geschehen, das Haushaltsrecht gegenüber dem Europäischen Parlament zu beugen.

9. Die Juncker Kommission ist politischer als frühere Kommissionen. Das hat meine ungeteilte Unterstützung. Genauso wie die Kommission und das Parlament sich in der Debatte um die Realität ihres tatsächlichen Handelns Kritik gefallen lassen müssen, sind der Rat und der Europäische Rat nicht sakrosankt. Eine Vielzahl unsinniger Bürokratieentscheidungen zur Schaffung von neuen und teilweise überflüssigen Agenturen liegen in der Verantwortung von Kommission und Europäischem Rat höchst selbst. Den Rückbau dann überflüssiger nationaler Agenturen hat es so gut wie nie gegeben.

10. Der Europäische Rat definiert die Leitlinien der europäischen Politik. Aber er hat nach dem Vertrag keine Zuständigkeit in der Gesetzgebung. De facto, manchmal der Entscheidungsunfähigkeit von Fachministerräten folgend, steht dieses Prinzip zunehmend zur Disposition. Der Zugriff auf den mehrjährigen Finanzrahmen ist ein besonders eklatantes Beispiel. Die Regeln sind einzuhalten.

11. Ein besonders interessantes Kapitel ist die Frage nach der demokratischen Legitimität und der parlamentarischen Kontrolle der Fachministerräte. Ein Wechsel der Ratspräsidentschaft im 6-Monatsrythmus ist nicht zwangsläufig effizienzfördernd. Dass im Alltagsgeschäft viel zu viele Entscheidungen einschließlich der delegierten Rechtsakte und der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht einer insgesamt unzureichenden parlamentarischen Begleitung in vielen Mitgliedsstaaten unterliegen, schadet dem Parlamentarismus, der Demokratie und der Glaubwürdigkeit europäischer Politik. Man muss nicht automatisch französischen Überlegungen folgen, die bisherige Struktur des Rates durch eine zweite Kammer abzulösen, die aus nationalen Abgeordneten besteht. Handlungsbedarf gibt es auf jeden Fall.

Auch die CDU Schleswig-Holstein muss sich mit diesen Fragen befassen, denn es geht um nichts anderes, als um die Zukunftsfähigkeit unseres Projektes Europa.

Weitere Überlegungen werden folgen und Kommentare sind erwünscht.

Mit freundlichen Grüßen
Ihr
boege_dunkelblau

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